Eine verrückte Idee.
Frühjahr 2019, Montagmorgen. Ich saß in der S-Bahn auf dem Weg zur Arbeit und scrollte durch Instagram. Mein Blick blieb hängen an dem Beitrag einer Food Bloggerin, der ich folgte. Sie hatte einen Screenshot ihres Fitnesstrackers vom Wochenende gepostet. Was ich dort sah, konnte ich erst nicht glauben. Sie hatte an einem Tag über 90.000 Schritte zurückgelegt! Wie ging das denn? Neugierig las ich den Text unter dem Beitrag. Sie schrieb, dass sie am Sonntag 70 km marschiert war als Training für den Mammutmarsch. „Mammutmarsch? Was ist das denn?“, dachte ich mir. Das war schnell herausgefunden. 100 km zu Fuß in 24 Stunden. Ein organisiertes Event, das in ganz Deutschland in mehreren Städten stattfindet. Auch in München – wie praktisch … und was für eine völlig verrückte und super coole Idee! 100 km marschieren, wie das wohl sein mochte? Ich war immer schon viel gewandert, aber immer so maximal 30 km. Da waren 100 km schon nochmal eine andere Hausnummer. Mir war sofort klar: Das werde ich machen.
Ein etwas längerer Spaziergang.
Ich schrieb meiner Schwester. Sie kannte das Event bereits und überlegte auch, mitzumachen. Damit waren wir schon zu zweit. Zusätzlich fing ich an, mich in meinem Freundeskreis umzuhören, wer noch Interesse hätte. Lustig war, dass die erste Reaktion stets war „Das ist mir zu krass, auf gar keinen Fall“ und kurze Zeit später „Eigentlich ist das ja schon irgendwie cool, ich überleg’s mir jetzt doch mal“. Tja, wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Mein Entschluss stand fest: Ich würde es wagen. Egal, ob jemand mitmachte oder nicht. Denn ich konnte mir überhaupt nicht vorstellen, wie es sich wohl anfühlen würde, 100 km zu marschieren. Die Strecke sollte kaum Höhenmeter haben. Wann wäre der Punkt, an dem man bei ebenerdigem „Spazieren“ keine Power mehr haben würde? Beim Joggen war mir das ja klar. Aber beim Gehen? Ich verstand schon, dass der Punkt kommen würde – das war ja auch irgendwie der Witz an der Sache. Aber wann? Und wie würde er sich bemerkbar machen? Und würde ich es schaffen, diesen Punkt zu überwinden?
Das Training.
Vorbereitung ist alles. Naja, nicht alles, aber zumindest schadet es nicht, sich vorab mal an eine größere Strecke zu wagen um einfach mal ein Gefühl dafür zu bekommen, ab wann die Schuhe drücken, der Rucksack zwickt, die Beine nicht mehr wollen und der Proviant nicht mehr schmeckt. Die Empfehlung der Mammutmarsch Organisatoren war, mindestens einmal 35 km zu marschieren. Also plante ich mit zwei Freundinnen, die ebenfalls überlegten, am Event teilzunehmen, einen Trainingsmarsch von München nach Wolfratshausen. 38 km, immer schön an der Isar entlang. Bis zum Mammutmarsch waren es noch etwa vier Monate, d. h. wir waren mit unserem Training mehr als rechtzeitig dran. Der Trainingsmarsch verlief größtenteils entspannt. Wir kehrten auf dem Weg in zwei Gasthäuser ein, spazierten durch die Sonne, verliefen uns einmal (das bescherte uns zwei zusätzliche Kilometer) und waren super happy, als wir am Abend in Wolfratshausen ankamen. Ziemlich erschöpft und mit dem ein oder anderen Bläschen an den Füßen, aber das war ja auch nur der erste Trainingsmarsch. Rückblickend betrachtet war es ein bisschen naiv, dass das gleichzeitig auch der letzte Trainingsmarsch war und ich dachte „ach, passt schon“.
Der große Tag.
Ende Juli 2019. Da war ich nun. Am Startpunkt des Mammutmarsches zusammen mit meiner Schwester und einer Freundin. Alle anderen Freunde, die über die vergangenen Monate überlegt hatten mitzumachen, waren aus unterschiedlichen Gründen nun doch abgesprungen (was übrigens vernünftig ist, wenn man sich nicht ganz fit fühlt oder schon beim Trainingsmarsch Schmerzen hatte). So waren wir nun zu dritt und super aufgeregt. Mein Freund war so lieb, uns hinzufahren und er würde uns auch am nächsten Tag wieder abholen. Zum Glück – so mussten wir nicht nach den 100 km noch irgendwie öffentlich heim fahren. Im Nachhinein betrachtet wären wir dazu auch körperlich gar nicht mehr in der Lage gewesen. Aber dazu später. Zum Zeitpunkt des Startes war unser größtes Problem tatsächlich, dass es in Strömen regnete. Unser Horror-Szenario. 24 Stunden mit nassen Füßen durch den Regen laufen. Wir alle trugen Laufschuhe, die ja sofort durchnässt sein würden. Da wir eine Stunde zu früh am Startpunkt waren, konnten wir uns immerhin noch bis zum Beginn um 16 Uhr im Trockenen unterstellen. Wenigstens das.
Die ersten 21 km.
Der Wahnsinn – gegen 15.30 Uhr hörte es plötzlich auf zu regnen und es kam sogar die Sonne raus! Übrigens schon mal ein kleiner Spoiler: Es fing wieder an zu regnen. Allerdings erst am nächsten Tag eine halbe Stunde, nachdem wir im Ziel angekommen waren. Das wussten wir natürlich zu dem Zeitpunkt noch nicht, aber wir waren positiv gestimmt. Jeder Kilometer, den wir vor allem zu Beginn im Trockenen zurücklegen konnten, war ein Geschenk. Die Dankbarkeit über „trockene“ Kilometer rückte übrigens im Laufe des Marsches immer weiter in den Hintergrund, da die Kilometer irgendwann trotz Trockenheit immer qualvoller wurden. Aber zumindest zu Beginn war das schon mal ein gutes Zeichen und wir marschierten voller Euphorie los. Auf der Strecke gab es insgesamt fünf Verpflegungspunkte, an denen man sich kurz ausruhen, etwas essen, die Trinkblase auffüllen und – für uns Mädels mit der wichtigste Punkt – auf die Toilette gehen konnte. Der erste Verpflegungspunkt sollte nach 21 km kommen. Also quasi nach einer Strecke, die schon als „normale“ Tageswanderung durchgehen würde. Aber da wir die ganze Zeit die 100 km im Kopf hatten, erschienen uns in Relation dazu die 21 km wie ein Klacks. Und wir kamen – abgesehen von Nackenschmerzen, die ich von meinem Rucksack hatte – noch immer ziemlich fit und entspannt nach etwa vier Stunden am ersten Verpflegungspunkt an. Etappe 1: Check.
Der Mitläufer-Effekt.
Nach einer etwa fünfzehnminütigen Pause an der Verpflegungsstation ging es weiter. Wir hatten nur kurz Gebrauch von den sanitären Anlagen (alias Dixie-Klos) gemacht und die ersten Blasen-Pflaster auf den Füßen verteilt. Eine gute Idee, schon mal dort, wo man den Schuh spürt, vorsorglich zu tapen. Wir marschierten voller Tatendrang weiter. Nun waren wir im Flow. Nur noch 79 km bis zum Ziel! Easy … Die nächste Verpflegungsstation war für Kilometer 37 angekündigt. Noch immer waren wir von relativ vielen Mitmarschierern umgeben. Nicht mehr ganz so viele zwar, wie bei der ersten Etappe, aber so ganz entzerrt hatte sich die Gruppe noch nicht. Kein Wunder, bei mehreren Hunderten Teilnehmern, die alle fast gleichzeitig losmarschiert waren. Irgendwie war das auch ganz nett so. Zumindest konnten wir uns nicht verlaufen, obwohl wir unsere Navigations-App nicht benutzten. Die grünen Weg-Pfeile auf dem Boden übersah ich größtenteils, aber es war ja davon auszugehen, dass die etwa 48 Menschen, die in dieselbe Richtung liefen, dasselbe Ziel hatten und wir einfach hinterher laufen konnten. Langsam wurde es dunkel, und als wir schließlich an der zweiten Verpflegungsstation ankamen, war von Tageslicht nichts mehr zu sehen. Nun ging der Marsch durch die Nacht los.
Langsam zwickt's.
Als wir die zweite Verpflegungsstation verließen und Richtung Starnberger See marschierten, merkten wir, wie die Euphorie, die uns in den ersten beiden Etappen beflügelt hatte, langsam nachließ. An den bereits gepflasterten Füßen waren inzwischen deutlich Blasen zu spüren. Noch nicht so schlimm, aber wir hatten ja noch 63 km vor uns. Doch wir ließen uns nicht beirren (hätte auch nichts gebracht), passierten die Ufer-Promenade des Starnberger Sees und marschierten in den Wald. Nachts im Wald mit Stirnlampe. Ein Szenario, das grundsätzlich nicht gerade meiner Vorstellung von einem gelungenen Wochenende entspricht. Aber irgendwie waren wir inzwischen in so einem Trott, dass wir auch gar nicht hinterfragten, was wir da taten. Der Gesprächsstoff war schon längst ausgegangen und ehrlich gesagt hatten wir auch einfach keine Lust mehr, zu reden. Auf der anderen Seite war es unfassbar langweilig. Es gab ja noch nicht mal eine interessante Landschaft, die man beim Gehen bewundern konnte. Alles was man sehen konnte, waren die Dunkelheit und die Lichter der Stirnlampen. Mittlerweile spürte ich dann auch noch meine Kniekehlen. Ich hatte glücklicherweise noch nie Knieprobleme. Daher wunderte ich mich, weshalb ich plötzlich Schmerzen hatte. Andererseits waren wir inzwischen fast bei Kilometer 50 (Halbzeit!!!) und einer solchen kontinuierlichen Belastung waren meine Beine nun mal noch nie ausgesetzt gewesen.
Das Ziel vor dem inneren Auge.
Das Erreichen des 50 km Schildes war ein psychologischer Wendepunkt. Wir hatten die Hälfte geschafft. Wir waren „über den Berg“. Ab jetzt hatten wir weniger Kilometer vor, als hinter uns. Es war etwa 3 Uhr morgens, wir waren irgendwo im Wald, aber das Ziel schien plötzlich erreichbar. Wir hatten von Anfang an nicht daran gezweifelt, dass wir die 100 km schaffen würden. Für uns war das alternativlos. 100 km oder gar nicht. Nun waren wir allerdings mittendrin und konnten die Situation endlich realistisch einschätzen. Ja, es war verdammt hart. Und ja, es tat weh. Aber ja, es hat sich gelohnt. Die nächsten Kilometer waren ein Auf und Ab der Gefühle. Mal trotteten wir gelangweilt nebeneinander her, mal bewunderten wir den Sternenhimmel (der wunderschön war in dieser Nacht), mal erinnerten die Schmerzen in den Beinen und Füßen daran, dass das, was wir da machten, überhaupt nicht gesund war, und mal heulte ich fast vor Glück, als ich mir vorstellte, wie es wohl sein würde, in einigen Stunden durch das Ziel zu laufen.
Der Lichtblick.
Die Nachtetappe war mit Abstand die schlimmste. Umso unbeschreiblicher war es, in den Tagesanbruch zu marschieren. Einen richtigen Sonnenaufgang sahen wir nicht, aber es war das Schönste der Welt, als es immer heller wurde. Ab da wurde auch die Gesamtstimmung wieder besser. Wir unterhielten uns wieder, hatten teilweise richtige Energieschübe, meine Schwester (okay, das war wirklich „ein bisschen“ verrückt) meinte etwa bei Kilometer 80, dass es doch eine tolle Idee wäre, ein Stückchen zu joggen (was wir natürlich nicht machten, denn ich war entschieden dagegen), und das Ziel rückte immer näher. Alles tat weh, die Füße waren voller Blasen, aber das war uns egal. Wir wollten nur noch ankommen. Auf der letzten Etappe, den letzten 14 km, hatten wir glaube ich sogar das höchste Tempo des gesamten Marsches. Ein bisschen lag das daran, dass wir dringend auf die Toilette mussten. Aber vor allem war Endspurt angesagt. Nur noch wenige Stunden bis zum Ziel. Langsam wurde uns bewusst, dass wir es fast geschafft hatten. Was wir seit dem Nachmittag des Vortages geleistet hatten, war unglaublich. Und so legten wir noch die letzten Kilometer zurück und marschierten mit Glückstränen in den Augen nach exakt 22 Stunden fix und fertig, aber stolz ohne Ende, durch das Ziel.
Eine Frage der Einstellung.
Der Mammutmarsch hat mich geprägt. Immer wieder erinnere ich mich zurück an dieses Erlebnis und reflektiere, was dort eigentlich mental passiert ist. Denn als der Körper schon längst nicht mehr wollte, waren unsere entscheidenden Erfolgsfaktoren, die uns schlussendlich bis ins Ziel gebracht haben:
Punkt 1: Wir hatten ein klares Ziel. 100 km – nicht mehr, nicht weniger. Für uns war absolut alternativlos, dass wir die gesamte Strecke laufen würden. Auch während des Marsches stellten wir dies nie in Frage. Warum war das so entscheidend? Zum einen verschwendeten wir somit keine Energie mit „Schwanken“, ob wir weitermachen sollten oder nicht, weil das außer Frage stand. Zum anderen setzt unser Gehirn ja alles in Relation zueinander. Dadurch, dass die 100 km unser Maßstab waren, kam uns jeder einzelne Kilometer verhältnismäßig wie ein Klacks vor. Beobachte das mal bei dir: Wenn du dir 20 km vornimmst, bist du nach 20 km vermutlich erschöpfter, als du nach 20 km bist, wenn du dir insgesamt 40 km vorgenommen hast. Der Körper teilt sich seine Energie so ein, dass sie für das Gesamtziel reicht. Da für uns die 100 km gesetzt waren, hatten wir auch Energie für 100 km. Ganz einfach.
Punkt 2: Gefühlt waren wir schon die ganze Zeit im Ziel. Hier kann ich nur aus meiner persönlichen Erfahrung sprechen. Was mich aus jedem Tiefpunkt rausholte, war das Glücksgefühl, das ich hatte, wenn ich mir ganz genau vorstellte, wie es wohl sein würde, durch das Ziel zu laufen. Ich stellte mir alle Details vor. Was würde ich sehen? Mit welcher Körperhaltung würde ich die Ziellinie überqueren? Und wie würde ich mich dabei fühlen? Ich habe es weiter oben schon erwähnt – meine Visualisierung des Zieleinlaufes war so real, dass mir dabei teilweise die Tränen kamen. Vor Glück. Gedanklich war ich schon dort. Nur der Körper musste noch hin. Aber die größte Arbeit, nämlich die mentale, war schon getan.
Was ich aus diesem Erlebnis mitnahm, war eine unglaubliche Energie. So unmittelbar zu spüren, was der Körper zu leisten imstande ist, wenn wir uns voll und ganz auf ein Ziel, das uns wichtig ist, konzentrieren, war eine Erfahrung, die ich nicht missen möchte. Muss man für diese Erfahrung 100 km zu Fuß gehen? Vermutlich nicht. Für mich war es ein mentaler Game Changer. Und übrigens die Inspiration für mein jetziges Herzensthema. Das Thema dieser Website. Wie wir durch sportliche Herausforderungen unsere Grenzen versetzen können, um auch in anderen Lebensbereichen unsere Ziele zu erreichen. Gut, dass es so viele alternative Sportmöglichkeiten gibt, dass für jeden etwas dabei ist.
In diesem Sinne: HAPPY WALKING UND GROWTACK YOUR LIFE!
Deine Lydia